Historisches Wörterbuch der Biologie, Rezension
Early Science and Medicine 17 (3) (2012), S. 369-370
Besprechung von Tobias Cheung
Toepfers dreibändiges Wörterbuch vereint in einer von der Antike bis in die Gegenwart reichenden Perspektive Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie der Lebenswissenschaften. Philosophische und kulturwissenschaftliche Aspekte umfassend, spricht das Wörterbuch eine breite Leserschaft an. Ihm liegt eine Systematik zugrunde, deren Zusammenhang zehn Hauptbegriffe bilden: Organismus, Typus, Form, Funktion, Entwicklung, Verhalten, Fortpflanzung, Evolution, Ökosystem und Kultur. Die zehn Hauptbegriffe verbindet Toepfer mit untergeordneten Begriffen absteigender Allgemeinheit zu einem Netz von 1760 Einträgen.
Im Rahmen einer ausführlichen Darstellung und Diskussion der Problemlage Begriffs-orientierter Rekonstruktionen geht Toepfer in seiner hundertseitigen Einleitung auf die zentrale Bedeutung des Organismus-Begriffs für den Aufbau des Wörterbuchs ein. Der Organismus-Begriff stellt für ihn die stabilste Komponente der historischen und theoretischen "Struktur" der Lebenswissenschaften dar. Diese Stabilität leitet Toepfer aus einem "teleologischen oder funktionalistischen Ansatz" ab, der, einzelne Zeitepochen überschreitend, alle Wissensformen über das Lebendige charakterisiert. Nach Toepfer fokussiert der "funktionalistische Ansatz" auf "typische organische Vermögen als konstante Phänomene" - etwa der Ernährung, des Wachstums, der Wahrnehmung und der Fortpflanzung -, die, ohne auf spezifische Erklärungsmuster angewiesen zu sein, das definieren, was ein Lebewesen ist, und von denen jeder "Fortschritt der empirischen Biologie" ausgeht. Ein Hauptziel des Wörterbuches ist entsprechend, die gegenwärtige Dynamik der Lebenswissenschaften systematisch mit der "Struktur" zu verbinden, die sowohl den Zusammenhang aller Wissensbereiche der Biologie als auch die Abgrenzung der Biologie gegenüber anderen Disziplinen begründet. Die aus dem "funktionalistischen Ansatz" resultierende historische Konstanz der "Struktur" lebenswissenschaftlichen Wissens zeichnet für Toepfer die Biologie als "begriffszentrierte Naturwissenschaften" aus. Während etwa der Massebegriff der Physik grundlegende konzeptuelle "Revisionen" durchlief, ist es in Toepfers Perspektive das "basale Konzept" Organismus, auf das lebenswissenschaftliches Wissen immer wieder rekurriert: "Bei aller Berechtigung von Konkurrenztheorien und Hierarchiedenken in der Biologie, ist es doch die Wechselseitigkeit der Prozesse in einem organisierten System, die gegenseitige kausale und ontologische Abhängigkeit sowie die relationale Bestimmtheit der einzelnen Glieder, die einen Gegenstand zu einem biologischen macht." (Bd. 1, Einleitung, xxiv). Der in der Einleitung des Wörterbuchs dargelegte systemische Überbau bestimmt zwar die Auswahl der Begriffe, nicht jedoch die Abfolge der Worteinträge, die alphabetisch ist. Toepfer hat die alphabetische Abfolge einer systematischen Präsentation vorgezogen, da sie eine "offene Form" gewährleistet, die der Dynamik und den Transformationen biologischer Forschung besser entspricht. In dieser Hinsicht ist Toepfers systemischer Überbau nur ein vorläufiges Gerüst, das zwar auf relativ stabilen Komponenten steht, aber erweitert oder verändert werden kann. Die einzelnen Artikel, deren Länge von 4 (Virus) bis 73 Seiten (Selektion) reicht, sind komplex organisiert, aber durch viele Unterkapitel, Tabellen und Grafiken sehr übersichtlich gestaltet. Jeder Artikel beginnt mit einer kurzen Etymologie des Haupteintrages, auf die Referenzen zu dessen ersten Verwendungen folgen. Alle Referenzen werden detailliert mit bibliografischen Angaben und Verweisen zu weiterführender Sekundärliteratur dokumentiert. Hiernach entwickelt Toepfer anhand von untergeordneten Begriffen die historischen und theoretischen Dimensionen des Themas bis zur Gegenwart. Diese Artikelstruktur ergänzt Toepfer durch Übersichten, Sammlungen einschlägiger Zitate und den Versuch einer "prägnanten Definition" des Haupteintrags.
Der systemische Überbau des Wörterbuchs ragt in die Rekonstruktion der "offenen Form" der alphabetisch geordneten Begriffe hinein. Toepfers These, dass die "funktionalistische Methodik die biologische Begriffsbildung prägt", bestimmt nicht nur die Auswahl der Haupteinträge und seinen Fokus auf die Disziplinen der Biologie, die sich mit dem "ganzen Organismus" beschäftigen (etwa Morphologie, Ethologie, Ökologie und Evolutionsbiologie), sondern auch seine Darstellungsweise der Geschichte lebenswissenschaftlichen Wissens. Nach Toepfer lassen sich bereits in der Antike, etwa in Herodots Beschreibungen von Räuber-Beute-Beziehungen, Ansätze ökologischer Gleichgewichtstheorien nachweisen. Toepfer weist zwar zugleich darauf hin, dass ein Funktionsmodell organismischer Ordnung der Antike fremd war (Aristoteles' "organischer Körper" ist nur ein Instrument der Seele), doch ist das Hineinragen einer historische Kontexte übergreifenden funktionalistischen Perspektive konstantes Merkmal des Wörterbuchs. Dem Leser bleibt allerdings durch die umfassende Offenlegung des systemischen Überbaus des Wörterbuches und durch die gut dokumentierten Rekonstruktionen genügend Raum, um sich von der funktionalistischen Methodik distanzieren und eine eigene Perspektive gewinnen zu können. Das fast 2500 Seiten umfassende Wörterbuch hat Toepfer allein erarbeitet. Die einzelnen Artikel öffnet dem Leser durch ihre synthetische Struktur, bis in die Gegenwart hinein, viele Zugangsmöglichkeiten, sich schnell über einen Hauptbegriff zu informieren, dessen Vernetzungen nachzugehen, oder vertiefende Literatur aufzuspüren. Toepfer gelingt nicht nur in bemerkenswert systematischer Weise, die Kenntnis der Vergangenheit der Naturwissenschaft Biologie im Kontext anderer Disziplinen und Wissensfelder auf ein neues wissenschaftliches Niveau zu heben, sondern auch die Bedeutung einer begriffsgeschichtlichen Rekonstruktion für den Zusammenhang und die reflexive Dimension der aktuellen Arbeitsfelder der Lebenswissenschaften hervorzuheben. Das Historische Wörterbuch der Biologie verweist nachdrücklich auf den in der Moderne oft vernachlässigten Verbund zwischen Wissenschaftsgeschichte und naturwissenschaftlicher Forschung. Es sollte in keiner Bibliothek fehlen, die den Anspruch erhebt, dieser Forderung gerecht zu werden.